In letzter Zeit gab es wieder einige Entscheidungen, die bei Geschwindigkeitsverstößen zu einer Unverwertbarkeit der Messung gekommen sind.Die Geschwindigkeitsmessung wurde verworfen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang eine ganz frische Entscheidung des AG Aachen (A.Z.: 444 OWi-606 Js 31/12 – 93/12), die dem Messgerät Vitronic Poliscan Speed die Anerkennung als standardisiertes Messverfahren abspricht. Da keine gerichtsverwertbare Geschwindigkeitsmessung vorliege, wurde der Betroffene freigesprochen.
Die Begründung des Gerichts ist überzeugend und nachvollziehbar. Eine Unverwertbarkeit der Messungen mit dem Gerät Poliscan Speed des Herstellers Vitronic ergebe sich daraus, dass der Hersteller keinen Zugang zu der genauen Funktionsweise und den relevanten Daten der Messwertermittlung gewährt. Unter Verweis auf patentrechtliche Bestimmungen erlangt selbst die PTB (Physikalisch-Technische Bundesanstalt) keinen Zugang zu diesen Daten (vgl. Löhne, DAR 2009 422, 424). Die Richtigkeit der Messung unter Berücksichtigung von Poliscan Speed als „standardisiertes Messverfahren“ sei dem Gericht nicht möglich. Denn ein solches standardisiertes Messverfahren führe regelmäßig dazu, dass auch im Bereich technischer Messungen Fehlerquellen nur zu erörtern seien, wenn der Einzelfall dazu Veranlassung gebe (Verweis auf BGH, Beschluss vom 19.8.1993, BGHSt 29, 291). Aus Sicht des rechtssuchenden Bürgers sei die Bestätigung der Messung mit der Begründung „standardisiertes Messverfahren“ regelmäßig aber nur dann hinnehmbar, wenn zumindest die Möglichkeit für den beauftragten Sachverständigen bestünde, die Grundlagen für die Zulassung des Gerätes, insbesondere die exakte Funktionsweise des Messsystems, bei der PTB zu überprüfen.
Mit anderen Worten, der Hersteller des Gerätes Poliscan Speed, die Vitronic GmbH aus Wiesbaden, beruft sich hinsichtlich der Messwertgewinnung auf ein Betriebsgeheimnis und macht es damit Gerichten und Sachverständigen unmöglich, die Messung im Einzelfall rechnerisch nachzuvollziehen. Wie soll ohne ein solches Nachvollziehen aber gewährleistet sein, dass ein standardisiertes Messverfahren, also ein Verfahren, bei dem im Zweifel alles seine Richtigkeit hat, vorliegt?
Aber das Amtsgericht Aachen legt noch einen drauf. All das Vorgenannte könne nach Auffassung des Gerichts vernachlässigt werden, wenn im Falle von Poliscan Speed keine Angriffspunkte gegeben wären, wenn das Gerät also über jeden Zweifel erhaben wäre. Dies sei jedoch gerade nicht der Fall. So sei bereits nachgewiesen worden, dass bei Poliscan der Auswerterahmen in bestimmten Konstellationen, insbesondere im unteren Geschwindigkeitsbereich, sogar auf stehenden Fahrzeugen zu sehen sein kann, wenn das gemessene Fahrzeug plötzlich nach rechts lenkt. Für solche Fälle hätte die PTB eine besondere Beschaffenheit der Messstelle vorschreiben müssen, was nicht geschehen sei (Winninghoff / Hahn, DAR 2010, 106, 108f.). Auch für die Version 1.5.5 sei die Auffassung vertretbar, dass der auf Poliscan-Fotos eingeblendete „Auswerterahmen“ nicht den Vorgaben der PTB hinsichtlich der Ablichtung des Bereichs der Messwertbildung entspricht, weil nämlich der Bereich der Messwertbildung bei Poliscan deutlich früher stattfindet, als der Moment der Auslösung des Fotos (vgl. Schmedding/Neidel/Reuß, SVR 2012, 121, 126).
Überhaupt, der Auswerterahmen. Die Zuordnung des Auswerterahmens bei Poliscan sei auch bei mehreren durchs Bild fahrenden Fahrzeugen ein Problem. Dies habe dazu geführt, dass bereits das OLG Karlsruhe signalisierte, jedenfalls bei Erfassung nur eines Fahrzeuges funktioniere das Gerät einwandfrei (Beschluss vom 17.2.2010). Wie aber – so kontert das AG Aachen – kann (angesichts des Auseinanderfallens von Messung und Auslösung, s.o.) ein Gericht prüfen, ob nicht ein Fahrzeug die Messung verursacht hat, welches im Bild nicht mehr zu sehen ist?
Auch im Hinblick auf die Softwareversion 1.5.5 sind nach Auffassung des AG Aachen Bedenken angebracht. Diese Version wurde vom Hersteller von „Poliscan Speed“ als Nachfolgerin der Versionen 1.5.3 und 1.5.4 in Umlauf gebracht, bei denen Probleme mit einer verzögerten Kameraauslösung aufgetreten waren (vgl. Bladt, DAR 2011, 431). Die Einführung der neuen Version geschah nun, obwohl der Hersteller nicht feststellen konnte, unter welchen Bedingungen der genannte Fehler auftrat (vgl. Bladt, aaO).
Insgesamt sei es nicht hinnehmbar, dass Gerichte ohne die Möglichkeit eigener Überprüfung Bescheide von Behörden als unumstößlich akzeptieren. Es mute geradezu „skurril“ an, dass mit der Begründung, eine Behörde habe die Unfehlbarkeit des Messgerätes festgestellt, die Bußgeldbescheide von anderen Behörden, die mit diesem Messgerät arbeiten, ebenfalls faktisch unangreifbar werden.
Das AG Aachen folgte damit in äußerst lesenswerter Weise den Entscheidungen des AG Kaiserslautern (A.Z.:6270 Js 9747/11.1 Owi ) und AG Landstuhl (A.Z.: 4286 Js 12300/10), die mit ähnlichen Überlegungen, wenn auch nicht mit ganz so überzeugender Darlegung, zu dem selben Ergebnis kommen, nämlich der Unverwertbarkeit von Messungen mit einem Gerät, bei dem das Nachvollziehen der Messwertermittlung auch einem Sachverständigen nicht möglich ist (hier: ESO 3.0).
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Rechtsanwalt Dr. Henning Karl Hartmann , Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht im Deutschen Anwaltsverein (DAV).
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